Freitag, 15. Juli 2011

Risiken für AKWs am Rhein: neue Bewertungen auf historischer Grundlage?

Im Hydrological Sciences Journal wurde eben eine Studie von Oliver Wetter, Christian Pfizer u.a. publiziert, die die historischen Daten von Hochwässern am Rhein bei Basel seit 1268 zusammen gestellt hat. Während der instrumentellen Aufzeichnungen, die bisher die Grundlage von Risikoeinschätzungen darstellen, kam es zwischen 1877 und 1993 zu einer "Katastrophenlücke", in der die bis dahin üblichen Extremereignisse ausgeblieben sind. Eine Sommerflut 1480 übertrifft dabei das bislang bekannte Extrem von 1852 bei weitem.
Dazu auch die Pressemeldung bei idw.


Nach Angaben von O. Wetter wurde die als Grundlagenforschung konzipierte Studie inzwischen "für die Hochwassersicherheitsüberprüfung der AKWs Beznau und Leibstadt im Auftrag des Eidgenössischen Nuklearsicherheitsinspektorats (ENSI) verwendet". Eigentlich hätte man erwarten sollen, dass solche Daten schon in der Planungsphase erhoben worden sind.

Atomkraftwerk Leibstadt an der deutsch-schweizerischen Grenze direkt am Rhein und im erdbebengefährdeten Gebiet um Basel. Das Kraftwerk bleibt auch bei dem Schweizer Atomausstieg bis 2035 in Betrieb
(Foto: 'Nawi112' [CC BY-SA 3.0])




Historische Risikoabschätzung
Den Umweltwissenschaften und mehr noch der gesellschaftlichen Diskussion fehlt es tatsächlich häufig an einem historischen Bewusstsein: Risikoabschätzungen beruhen daher oft auf einem sehr kurzen Erfahrungshorizont und lassen historische, oft aber gar nicht so weit zurück liegende Ereignisse außer Acht. Die Aussagen deutscher Politiker nach der Katastrophe von Fukushima, Tsunamis und solch schweren Erdbeben gäbe es in Deutschland nicht, hält der historischen Prüfung möglicherweise nicht stand. Spiegel online hat für einen Artikel neuere geologische und archäologische Forschungen zum Erdbebenrisiko aufgegriffen.

Neuere Forschungen zeigen in der Tat, dass die Betrachtung längerer Zeiträume unerlässlich ist, um Risiken von Erdbeben und Überschwemmungen richtig einzuschätzen. Dabei ist von der Wissenschaft nicht zu erwarten, dass sie hier und jetzt gültige Ergebnisse vorlegt. Gerade die Erschließung von Daten und mehr noch die Rekonstruktion früherer Umweltereignisse ist außerordentlich schwierig und steckt noch weitgehend in den Anfängen. Viele Daten können erst über eine konsequente und kontinuierliche Bodendenkmalpflege erfasst und dokumentiert werden.


Überschwemmungsrisiko
Die neue Arbeit über die Hochwässer am Rhein bei Basel verweist auf die bislang kaum beachteten Extremhochwässer in Mitteleuropa. Dabei ist aber das Hochwasser von 1480 noch bei weitem nicht der Extremfall. Weiter im Norden, am Neckar, im Einzugsgebiet des Main und in Mitteldeutschland ist ein Extremhochwasser im Jahre 1342 zu belegen, das mit seinen Wasserständen - zu einer Zeit als noch keine Eindämmungen existierten - alle jüngeren Überflutungen bei weitem übertraf. Es spricht vieles dafür, dass diese Unwetterfront des Juli 1342 enorme Schäden in der Landwirtschaft angerichtet hat und zur Aufgabe zahlreicher Siedlungen gezwungen hat. Archäologisch lassen sich mehrere Meter tiefe Erosionsfurchen nachweisen, die wohl auf dieses eine Ereignis zurück gehen.
Neben dieses Überflutungsrisiko im Binnenland treten - von den schon lange bekannten Sturmfluten abgesehen - möglicherweise doch auch Tsunamis an der Nordseeküste. Sie werden dort nicht von Erdbeben, sondern von Erdrutschungen unter Wasser ausgelöst. Ein solches Ereignis stellt die Storegga-Rutschung vor der norwegischen Küste vor etwa 7300 Jahren dar. Sie löste einen Tsunami aus, der die norwegische und die britische Küste sowie die Shetlands betraf. Inwieweit er auch an der südlichen Nordseeküste Auswirkungen hatte, bleibt noch unklar.


Erdbebenrisiko
Schon 2009 hat sich eine andere Studie mit dem Basler Erdbeben von 1356 auseinandergesetzt. Schadensdokumentationen in Basel, beruhend auf der Analyse noch stehender Bauten, archäologischer Grabungen und schriftlicher Quellen gibt einen Eindruck von der Intensität des damaligen Bebens, das bis heute das stärkste in Mitteleuropa nachgewiesene ist. Eine Kartierung archäologischer wie historischer Daten zeigt, dass es im Westen noch in fast 300 km Entfernung Schäden hervorrief. Im Norden sind Schäden aus Straßburg bekannt, gespürt wurde es auch noch in Speyer.
Die Schweizerischen AKWs, die mitten im damaligen Schadensgebiet stehen, sind angeblich auf das Basler Erdbeben als Maximalrisiko ausgelegt (siehe Bericht Spiegel online v. 15.3.2011). Inzwischen erhärtet sich zunehmend der lange gehegte Verdacht, dass auch die römische Stadt Augusta Raurica durch ein schweres Erdbeben zerstört worden war. In die Mitte des 3. Jahrhunderts sind zahlreiche Mauerverstürze, aber auch unbegrabene menschliche Skelettreste zu datieren. Intensität und regionale Auswirkungen dieses Bebens müssten dringend näher erfasst werden. Der Verdacht, dass auch ein römisches Gebäude im Raum Rottweil im 3. Jahrhundert einem Erdbeben zum Opfer gefallen ist, scheint sich hingegen nicht zu bestätigen.
Archäologische Erdbebenforschung hat seit den 1990er Jahren einen enormen Aufschwung genommen.

Diese praktische Anwendung historischer und insbesondere archäologischer Daten spielt bisher eine sehr untergeordnete Rolle, scheint aber für Planungen moderner Projekte - nicht nur von AKWs - eine unverzichtbare Datenbasis. Forschung und Denkmalpflege erwächst hier eine Aufgabe im Sinne einer "applied archaeology".

Literaturhinweise
  • D. Fäh/M. Gisler/B. Jaggi u. a., The 1356 Basel earthquake: an interdisciplinary revision. Geophysical Journal International 178, 1, 2009, 351–374.D. Fäh, Zur Frage eines Erdbebens in Augusta Raurica im 3. Jahrhundert n. Chr. aus seismologischer Sicht. Jahresber. aus Augst und Kaiseraugst 30, 2009, 291–305.
  • G. Hoffmann/K. Reicherter, Soft-sediment deformation of Late Pleistocene sediments along the southwestern coast of the Baltic Sea (NE Germany). International Journal of Earth Sciences, online first, 2011, (1-13).
  • S. Stiros/R. E. Jones (Hrsg.), Archaeoseismology. A joint publication by IGME - Institute of Geology & Mineral Exploration. Fitch Laboratory occasional paper 7 (Athens 1996).
  • O. Wetter/C. Pfister/R. Weingartner u. a., The largest floods in the High Rhine basin since 1268 assessed from documentary and instrumental evidence. Hydrological Sciences Journal. Hydrological Sciences Journal 56, 5, 2011, 733–758.
  • M. Dotterweich/H.-R. Bork, Jahrtausendflut 1342. Arch. Deutschland, 4, 2007, 38–40.
     
Links
zu den Erdbebenforschungen in Augst
Submarine Hangrutschungen: eine (unterschätzte) Naturgefahr?

Keine Kommentare: